Polysportivität vs. Frühspezialisierung

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob sich Kinder und Jugendliche früh auf eine Sportart spezialisieren sollten oder ob das Ausüben mehrerer Sportarten erfolgsversprechender für spätere Spitzenleistungen ist. Die vorgestellte Studie hat sich mit genau diesem Thema im Fußballkontext auseinandergesetzt. Außerdem werden weitere Erkenntnisse im Fazit angeführt, um Eltern und Trainer anzuregen und zu sensibilisieren.

Originalstudie: Sport activities differentiating match-play improvement in elite youth footballers – a 2-year longitudinal study (Güllich, Kovar, Zart & Reimann, 2017)

Zusammenfassung:

Diese Studie beschäftigt sich mit der grundlegenden Frage, ob Kinder sich frühzeitig auf eine Sportart spezialisieren sollten oder ob es erfolgsversprechender ist, wenn sie im jungen Alter verschiedenen Sportarten und Bewegungsaktivitäten nachgehen. 44 Nachwuchsfußballer wurden zweimal, mit einem Abstand von 24 Monaten (11.1 Jahre – 13.1 Jahre) anhand von Videos (von 5 vs. 5 Spielen) im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit bewertet. Je nach Leistungsverbesserung wurden sie der Gruppe der „Strong Responders“ (starke Leistungsverbesserung) oder „Weak Responders“ (schwache Leistungsverbesserung). Durch einen Fragebogen wurde die Menge von organisiertem Training und nicht-organisiertem Sport erfasst, sowohl in Bezug auf den Fußball als auch auf andere Sportarten. Es stellte sich heraus, dass die „Strong Responders“ mehr nicht-organisierten Fußball spielten und mehr an organisiertem Training in anderen Sportarten teilnahmen, gleichzeitig aber nicht mehr organisiertes Fußballtraining hatten als die „Weak Responders“. Folglich scheint eine polysportive Ausbildung die fußballerische Entwicklung von Jugendlichen positiv zu beeinflussen.

Theoretischer Hintergrund:

Die Kindheit und Adoleszenz sind wichtige Perioden in der Langzeitentwicklung von Topathleten. Die sportlichen Aktivitäten und Entscheidungen bestimmen die Leistungsentwicklung und den Karriereverlauf. In der Wissenschaft stehen sich zwei Ansätze gegenüber, wie sich Kinder und Jugendliche zu späteren Spitzensportlern entwickeln können. Die frühe Spezialisierung beschreibt das frühzeitige Konzentrieren auf eine Sportart, wodurch die Athleten schon in jungem Alter verhältnismäßig Spitzenleistungen erbringen können. Die frühe Spezialisierung erleichtert auch die Aufnahme in Fördersysteme (z.B. Auswahl, Bundeskader), wodurch von speziellen Fördermaßnahmen profitiert werden kann. Allerdings belegen Studien, dass eine frühe Spezialisierung mit frühen Wettkampferfolgen selten zu den gleichen Erfolgen im Erwachsenalter führt (Pankhurst & Collins, 2013; Güllich & Emrich, 2012). Stattdessen scheint eher Polysportivität im jungen Alter spätere Spitzenleistungen zu begünstigen. Das Ausüben verschiedener Sportarten fördert ein langes sportliches Engagement (Fraser-Thomas, Cote & Deakin, 2008) und führt zu variablen Bewegungserfahrungen, die sich in hohen motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten äußern. Dennoch bestehen weitere Wissenslücken und Unstimmigkeiten in der Forschung, die diese Untersuchung für den Bereich des Fußballs zu schließen versucht.

Untersuchungsablauf & Stichprobe:

Es wurden insgesamt 44 Fußballspieler untersucht, die zum Zeitpunkt des Studienbeginns im Schnitt 11.1 Jahre alt waren. Darunter befanden sich 17 Spieler eines Nachwuchsleistungszentrums, sowie 27 weitere Spieler, die in derselben Liga aktiv waren. Die Studie ist längsschnittlich aufgebaut, dementsprechend wurden die Probanden mit einem Abstand von 24 Monaten zweimal im Hinblick auf ihre fußballerische Leistungsfähigkeit in 5 vs. 5-Spielen bewertet. Dafür waren zwei Trainer zuständig, die über lange Erfahrung im Spitzenbereich des Jugendfußballs sowie über höchste Trainerlizenzen verfügen. Durch den Vergleich der beiden Messzeitpunkte wurden zwei Gruppen gebildet: Die „Strong Responders“ (SR, starke Leistungsverbesserung) und die „Weak Responders“ (WR, schwache Leistungsverbesserung). Beide Gruppen waren identisch in Bezug auf das Alter, die Trainingsjahre und die Leistungsfähigkeit zum ersten Messzeitpunkt. Die jungen Fußballer beantworteten zusätzlich einen retrospektiven Fragebogen, der verschiedene Parameter zu vergangenen sportlichen Aktivitäten erhob. So wurde das Alter des Trainingseinstiegs erfasst, die durchschnittliche Trainingszeit im Verein pro Woche und auch das nicht-organisierte Sporttreiben in der Freizeit. Dabei wurde auch zwischen verschiedenen Altersphasen unterschieden (< 6 Jahre, 7-10 Jahre und die Zeit zwischen den beiden Messzeitpunkten).

Ergebnisse:
  • Keine Unterschiede für das Alter des Trainingseinstiegs und die Trainingshäufigkeit zwischen SR und WR
  • SR mit signifikant mehr nicht-organisiertem Fußball
  • SR mit signifikant mehr Trainingseinheiten (mehr Zeit und Jahre) in anderen Sportarten
  • Sportliche Freizeitaktivitäten oder Erfahrungen mit Gleichaltrigen (Peers) in diversen Sportarten scheinen Erfolg sowohl in anderen Sportarten, als auch im Fußball zu begünstigen
Talktics-Fazit:

Es gibt zahlreiche prominente Beispiele, die in ihrer Jugend verschiedenen Sportarten nachgegangen sind. Zwei der besten Tennisspieler der Welt – Roger Feder und Raphael Nadal – spielten jahrelang Fußball. Michael Phelps, einer der erfolgreichsten Schwimmer, spielte auch Basketball und Baseball. Dirk Nowitzki konnte sich lange nicht zwischen Basketball, Handball, Turnen und Tennis entscheiden. Und auch Bastian Schweinsteiger, um noch ein Beispiel aus dem Fußball zu nennen, war ein ambitionierter Skifahrer, bevor er sich auf den Fußball konzentrierte.

Polysportivität scheint also erfolgreiche Sportkarrieren zu begünstigen. Verantwortlich dafür sind mehrere Faktoren. Durch die Erfahrungen in diversen Sportarten erreichen junge Athleten ein hohes allgemeines Ausbildungsniveau und eine bessere Bewegungstechnik. Zusätzlich besteht ein geringeres Risiko für Überlastungsschäden. Auch die Drop-Out-Rate, also das Aussteigen aus einer Sportart, ist bei polysportiv ausgebildeten Athleten geringer.

Als Fußballtrainer sollte man sich aus genannten Gründen in jungen Altersklassen bemühen, möglichst viele Bewegungserfahrungen zu ermöglichen. Das kann durch Fangspiele, kreative Koordinationsübungen, unterschiedliche Materialien oder fußballfremde Spiele gelingen. Davon werden die Kinder und Jugendlichen auf lange Sicht profitieren, auch wenn der kurzfristige Erfolg dazu hinten angestellt werden muss.

Und noch ein Appell an alle Eltern: Neben dem Vereinssport bestimmt auch der Alltag von Kindern und Jugendlichen über deren motorische Fähigkeiten und Fertigkeiten. Kinder und Jugendliche, die viel Zeit draußen verbringen mit Rennen, Springen, Hüpfen, Klettern, SPIELEN, haben sicherlich Vorteile gegenüber denen, die viel Zeit zuhause verbringen. Zusätzlich fördert Bewegung in jeder Altersklasse die Gesundheit.

Güllich, A., Kovar, P., Zart, S., & Reimann, A. (2017). Sport activities differentiating match-play improvement in elite youth footballers–a 2-year longitudinal study. Journal of Sports Sciences35(3), 207-215.

Pankhurst, A., & Collins, D. (2013). Talent identification and development: The need for coherence between research, system, and process. Quest65(1), 83-97.

Güllich, A., & Emrich, E. (2012). Individualistic and collectivistic approach in athlete support programmes in the German high-performance sport system. European Journal for Sport and Society9(4), 243-268.