Strukturen in der sportlichen Entwicklung von deutschen Spitzenfußballerinnen

Auf dem absoluten Top-Niveau des Fußballs unterscheiden Kleinigkeiten über Erfolg oder Misserfolg. Ähnlich verhält es sich auch mit den Karrieren von Spitzenfußballern/innen. Einzelne Faktoren in der Entwicklung entscheiden darüber, ob es am Ende für die Nationalmannschaft reicht oder nicht. Doch welche Faktoren sind ausschlaggebend und begünstigen eine Nationalmannschaftskarriere? Der folgende Beitrag fasst die Erkenntnisse einer Studie zusammen, die dieser Frage anhand von Spielerinnen eines deutschen Spitzenclubs nachgegangen ist.

Originalstudie: “Macro-structure” of developmental participation histories and “micro-structure” of practice of German female world-class and national-class football players (Güllich, 2019)

Zusammenfassung:

Ziel der Studie war es, die fußballerische Entwicklung von professionellen deutschen Fußballspielerinnen anhand gewisser Strukturen des freien und angeleiteten Fußballspielens zu untersuchen. Die 29 Probanden waren Spielerinnen der deutschen Bundesliga, von denen 14 auch in der deutschen Nationalmannschaft aktiv waren. Über Fragebögen wurden Informationen zu den gespielten Positionen, dem angeleiteten Fußballtraining, dem Fußballspielen in der Freizeit und zu Erfahrungen in anderen Sportarten gewonnen. Die Fragebögen umfassten die Zeit von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Es zeigte sich, dass Nationalspielerinnen in ihrer Vergangenheit weniger Konditionstraining aber mehr Spielformen im Training absolvierten als die Nicht-Nationalspielerinnen. Außerdem hatten die Nationalspielerinnen bis zu ihrem 18. Lebensjahr zusammengerechnet weniger Trainingszeit auf dem Fußballplatz verbracht, dafür aber mehr Zeit mit Fußballspielen in der Freizeit (mit Peers) und mit Training in anderen Sportarten. Die Untersuchung deutet darauf hin, dass eine Kombination von langjährigem Fußballtraining (mit einem Schwerpunkt auf freien Spielformen), vermehrtem Fußballspielen in der Freizeit und Training in anderen Sportarten förderlich für die Entwicklung ist und die Höchstleistungen im Erwachsenenalter begünstigt.

Theoretischer Hintergrund:

Schon viele Jahre stellt sich die Frage, welche Arten von sportlichen Aktivitäten und Training zu Spitzenleistungen führen. Bisherige Studien konzentrierten sich dabei vorwiegend auf die Phasen der Kindheit und der Adoleszenz und betrachteten häufig die beiden Ansätze der Frühspezialisierung und Polysportivität (Studie zur Polysportivität). Um Entwicklungsfaktoren zu untersuchen werden in der Regel die Erfahrungen in angeleitetem Training („coach-led practice“), in freiem Spielen mit Freunden („peer-led practice“) und in anderen Sportarten herangezogen. Seltener werden auch die Trainingsinhalte und -formen berücksichtigt, obwohl diese ebenfalls zur Entwicklung der Athleten beitragen können (Reines Konditionstraining oder Kleinfeldspiele? Übungs- oder Spielformen? Verschiedene Positionen oder frühe eine feste Position spielen?).

Die vorliegende Untersuchung versucht sowohl die sportlichen Erfahrungen (Makrostruktur: Fußballtraining, Fußball in der Freizeit, weitere Sportarten), als auch die Trainingsinhalte und -formen (Mikrostruktur) zu berücksichtigen und sie in Bezug auf die Entwicklung von erwachsenen nationalen Spitzenfußballerinnen zu analysieren.

Untersuchungsablauf & Stichprobe:

Probanden waren 29 weibliche Spielerinnen eines Spitzenclubs der deutschen Bundesliga. Alle Spielerinnen waren in ihrer Jugend bereits für U-Nationalmannschaften nominiert, 14 der Spielerinnen spielten zum Zeitpunkt der Untersuchung für die deutsche Nationalmannschaft. Unter den Spielerinnen waren 3 Torhüterinnen, 14 Verteidigerinnen und 12 Angreiferinnen. 10 Spielerinnen (8 der Nationalmannschaft und 2 Nicht-Nationalspielerinnen) berichteten, dass sie aktuell auf verschiedenen Positionen aktiv sind. Von den drei Torhüterinnen standen zwei außerdem bis ins späte Jugendalter als Feldspielerinnen auf dem Platz. 

Alle Spielerinnen füllten unter Aufsicht in kleinen Gruppen Fragebögen zu den beschriebenen Themen aus. Hier ein paar der erfassten Variablen:

  • Alter beim Start von angeleitetem Training und Wettbewerben, Alter der Nominierung in die aktuelle Clubmannschaft und die Nationalmannschaft
  • Teilnahme, Einstiegsalter und Dauer von anderen Sportaktivitäten (Freizeitsport und Training in anderen Sportarten)
  • Durchschnittliche Wochenstunden an sportlichen Aktivitäten in verschiedenen Altersklassen
  • Anteil der Trainingszeit von Konditionstraining (Schnelligkeit, Kraft, Ausdauer), Übungsformen und Spielformen
  • Hauptposition und Alternativpositionen in verschiedenen Altersklassen

Sämtliche Daten wurden statistisch ausgewertet, um die Gruppe der Nationalspielerinnen mit der Gruppe der Nicht-Nationalspielerinnen vergleichen zu können. So sollten Hinweise zu Unterschieden in den Makro- und Mikrostrukturen der Spitzenfußballerinnen aufgedeckt werden.

Ergebnisse:
  • Makrostruktur:
    • Das absolute Alter der Spezialisierung auf eine Sportart spielte keine signifikante Rolle für die spätere Leistungsfähigkeit
    • Das relative Alter der Spezialisierung scheint jedoch von Bedeutung zu sein, schließlich verfügten die Nationalspielerinnen bereits über mehr Jahre an Fußballerfahrung zum Zeitpunkt der Spezialisierung als die Nicht-Nationalspielerinnen → Nationalspielerinnen spezialisieren sich relativ gesehen später
    • Nationalspielerinnen wurden signifikant später (mit höherem Alter) zum ersten Mal für eine U-Nationalmannschaft nominiert
    • Nationalspielerinnen nahmen in der Adoleszenz signifikant weniger an angeleitetem Training (coach-led football) teil als Nicht-Nationalspielerinnen
    • Nationalspielerinnen spielten mehr Fußball in ihrer Freizeit (peer-led football) und verfügen über mehr Trainingserfahrung in anderen Sportarten
  • Mikrostruktur:
    • Nationalspielerinnen trainierten zwischen 11 und 25 Jahren signifikant weniger konditionell, aber zwischen 15 und 25 Jahren signifikant mehr in Spielformen als Nicht-Nationalspielerinnen
    • Die Erfahrungen auf verschiedenen Positionen unterschieden sich nicht auffällig zwischen den beiden Gruppen
    • 27 der 29 Frauen spielten auf verschiedenen Positionen, wobei eine Spielerin in ihrer Karriere im Durchschnitt 3,3 unterschiedliche Positionen besetzte und sich mit 19,4 Jahren auf ihre aktuelle Hauptposition spezialisierte
Talktics-Fazit:

Die Untersuchung zu den Makro- und Mikrostrukturen im deutschen Spitzenfußball liefert Erkenntnisse zu den sportlichen Karrieren von Nationalspielerinnen und Nicht-Nationalspielerinnen. Die Ergebnisse zur Polysportivität decken sich mit denen weiterer Studien. Demnach begünstigt das Aufwachsen mit verschiedenen Sportarten spätere Spitzenleistungen im Fußball. Außerdem scheinen diejenigen Spielerinnen später erfolgreicher zu sein, die mehr Fußball in ihrer Freizeit mit Freunden gespielt haben (peer-led football). Neue Erkenntnisse konnten in der Studie zu den Trainingsformen und -inhalten gewonnen werden. Die Nationalspielerinnen gaben an, mehr in Spielformen trainiert zu haben und weniger in reinem Konditionstraining als ihre Vereinskolleginnen. Erfahrungen auf verschiedenen Positionen waren für beide Gruppen gleichermaßen vorhanden.

Die Studie legt nahe, das eine Kombination günstiger Makro- und Mikrostrukturen zu späteren Spitzenleistungen führen kann. Für die Makrostrukturen sind größtenteils die Eltern mitverantwortlich, die ihre Kinder aktiv und polysportiv erziehen sollten. Im Bereich der Mikrostrukturen sind die Trainer in der Pflicht. Sie sollten ihr Training flexibel und offen gestalten, um den Kindern und Jugendliche viele Bewegungsanreize zu geben und die intrinsische Motivation zu stärken. Spielformen mit viel Entscheidungsfreiheit sind dabei Übungsformen und Konditionstraining vorzuziehen, auch wenn die genannten alternativen Trainingsformen kurzfristig erfolgsversprechender zu sein scheinen.

Güllich, A. (2019). “Macro-structure” of developmental participation histories and “micro-structure” of practice of German female world-class and national-class football players. Journal of Sports Sciences37(12), 1347-1355.